Vertrauen in der Systemtheorie und der Systemischen Praxis
In psychologischen und soziologischen Umfragen ist Vertrauen meist unter den Top 10 der wichtigsten Werte, oft sogar auf den ersten 3 Plätzen. Gleichgültig ob vom Selbstvertrauen, Vertrauen in Partnerschaften oder Freundschaften, in der Familie, im Beruf, in öffentliche Institutionen oder in das Bankensystem – Vertrauen ist ein zentrales Thema des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Wo Vertrauen ist, kann es auch irritiert, gestört und zerstört werden – Vertrauensprobleme und Vertrauenskrisen sind vielfältige Anlässe für Beratungen jeglicher Art im Privaten und Beruflichen. Der Vertrauensmissbrauch ist in Studien für die Mehrheit aller Befragten der Beziehungskiller Nr. 1 (Quelle). Und auch die Welt der Wirtschaft wird immer wieder von kleinen und großen Vertrauensverlusten erfasst. So stellte jüngst der Leadership Confidence Index 2020 eine global verbreitete Vertrauenskrise und Führungskrise fest. Demnach vertrauen 85% der befragten Führungskräfte nicht darauf, dass ihre Organisation unerwartete Ereignisse und die zu erwartenden Disruptionen durch neue Technologien, den demografischen Wandel oder den Klimawandel erfolgreich managen und meistern können (Quelle). Aber was überhaupt ist Vertrauen? Wozu vertrauen und misstrauen wir? Worin können und sollen wir vertrauen oder nicht? Was oder wer ist vertrauenswürdig, wie entsteht Vertrauenswürdigkeit? Und wie gehen wir konstruktiv mit Vertrauenskrisen und Vertrauensverlusten um? Der Psychologe Erik H. Erikson führte 1950 den Begriff des Urvertrauens ein und beschrieb damit die Antinomie von Vertrauen vs. Misstrauen als erstes Stadium der psychosozialen Entwicklung des Menschen nach der Geburt. Dieses Urvertrauen ist universell menschlich und die Grundlage einer gesunden Persönlichkeit, so Erikson. Trotzdem wurde Vertrauen historisch betrachtet bis ins 18. Jahrhundert hinein überwiegend als Gottvertrauen thematisiert. Erst die Moderne entdeckt Vertrauen als allgemeines Gefühl, das auf alles und jeden bezogen wird, weshalb die Historikerin Ute Frevert vom Vertrauen als einer Obsession der Moderne spricht. In diesem Webinar werden wir uns eingehend mit der Schrift über Vertrauen des Systemtheoretikers und Soziologen Niklas Luhmann befassen. Luhmann entwirft eine Theorie des Vertrauens, die sowohl Psychologie als auch Soziologie und andere Disziplinen umfasst, indem er allgemeiner ansetzt. Komplexität und Kontingenz, Unbeständigkeit, Unsicherheit und Ungewissheit sind Probleme, für die Vertrauen die Lösung ist. Vertrauen ist aus der Perspektive seines systemtheoretischen Ansatzes ein Mechanismus zur Reduktion psychischer und sozialer Komplexität. Weil nicht alles überall und jederzeit in Frage gestellt und gewusst werden kann, müssen wir uns den Risiken der Komplexität und Kontingenz, dass es auch ganz anders sein und werden könnte, stellen. Die Kompetenz Vertrauen zu erweisen und zu erwerben ist die Antwort auf die Frage, wie wir mit dieser Offenheit des Menschseins und der Moderne umgehen können. Themen aus dem Inhalt seines Buches:- Das Bezugsproblem: Soziale Komplexität
- Bestände und Ereignisse
- Vertrautheit und Vertrauen
- Vertrauen als Reduktion von Komplexität
- Überzogene Information und Sanktionsmöglichkeiten
- Persönliches Vertrauen
- Medien der Kommunikation und Systemvertrauen
- Taktische Konzeption: Vertrauen als Chance und als Fessel
- Vertrauen in Vertrauen
- Vertrauen und Mißtrauen
- Vertrauensbereitschaft
- Rationalität von Vertrauen und Mißtrauen