Was ist philosophisches Denken?

Ich möchte beginnen mit dem, was Philosophie für mich bedeutete als ich sie entdeckte – philosophisches Denken, selbst denken! Aber was ist philosophisches Denken? Und was ist Denken überhaupt?

Die Begeisterung für Philosophie begann für mich in der Schulzeit mit der Entdeckung von Jean-Jacques Rosseaus (1712-1778) „Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes/ Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ (1955) und „Du contract social ou Principes du droit politique/Vom Gesellschaftsvertrag oder die Prinzipien des Staatsrechts“ (1762), Voltaires (1694-1778) „Candide ou l’optimisme/Candide oder der Optimismus“ (1759), Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) „Nathan der Weise“ (1779) und Immanuel Kants (1724-1804) „Beanwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784).

Diese philosophischen Autoren waren Philosophen der Aufklärung – die Aufklärung! Sie begeisterte mich! Kant fasste die Aufklärungsidee in seinem Aufsatz von 1784 zusammen:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen! Spare aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Der kantische Wahlspruch der Aufklärung galt nahezu vergessen als Motto meines, eines Gymansiums an dem man Philosophie nicht in einem eigenen Fach, sondern im Religions-, Deutsch-, Latein- und Politikunterricht kennenlernen musste. Das reizte mich. Eine Mitschülerin und ich versuchten über eine Unterschriftensammlung Philosophie als Fach zu initiieren oder wenigstens eine Philosophie-AG zu gründen, was scheiterte, weil leider nur ein einziger Lehrer Philosophie hätte unterrichten können und dieser bereits mit anderen Aufgaben ausgelastet war. Also organisierten wir einen Lesekreis, der sich privat traf; leider nicht oft. Sie und ich blieben der Philosophie trotzdem auf getrennten Wegen treu.

Mich faszinierte die Idee des Aufklärungsdenkens, mich selbst und die Welt durch das Denken, das eigene Denken zu entdecken, zu verstehen und schließlich philosophisch begründet ethisch und politisch zu verändern. Folglich entschied ich, Philosophie zu studieren. Aber wie studiert man Philosophie, die Kunst des Denkens? Diese Frage blieb offen. Dazu möchte ich wieder Kant zitieren. Er schreibt in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV) (1781/1787):

„Man kann also unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie (es sei denn historisch), sondern, was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophiren lernen.“ (Kant, KrV, 541 sq.)

Was die Mathematik betrifft, maße ich mir keine Urteilskompetenz an. Einige Zeilen weiter erklärt er, was er mit philosophieren lernen meint:

„Man kann nur philosophiren lernen, d.i. das Talent der Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Principien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.“ (Kant, KrV, 542)

Kant gibt jedoch keine didaktische und methodische Einführung, wie das philosophieren, der Gebrauch des Verstandes und der Vernunft oder das Denken lernend und lehrend zu tätigen wäre.

Um es offen zu bekennen, und ich vermute, ich bin nicht der einzige Studierende der Philosophie gewesen, dem es so erging, ich wurde in den vielen Jahren meiner Schul- und Studienzeit, nicht explizit und nicht systematisch im Philosophieren, im Denken, im Gebrauch von Verstand und Vernunft unterrichtet. Ein einziger junger Dozent des Marburger Instituts für Philosophie, der schließlich einige Jahre für mich Mentor und Freund wurde, wusste uns im Handwerk des Philosophierens mit dem einen oder anderen Rat anzuleiten.

Was ich wusste und konnte, das brachte ich schon mit, unbewusst und implizit eingeübt im Lesen, Schreiben, Nachdenken und Diskutieren während meiner Jugendjahre, wozu mein Vater mir den ursprünglichen Anstoß und erste Hilfestellungen sowie ein Lehrer weiterführende Hinweise gab. Und so setzte ich es im Studium fort, wenigstens zwischenzeitlich erkennend, dass da wohl etwas zu lernen möglich ist, folglich oft auf der Suche nach den Bausteinen und Werkzeugen des Denkens in lehrreichen Büchern sowie studentischen Diskussionen und schriftlichen Etüden in denen ich mich mit einigem Glück üben konnte.

Als ich selbst an mehreren Universitäten unterrichtete und vor allem als ich für kurze Zeit an einer beruflichen Schule als Lehrer für das Fach Ethik tätig war, bemerkte ich und wurde mir immer klarer und deutlicher bewusst, dass ich mit dem sogenannten Stoff, dem Inhalt und Gehalt dessen, was ich an Wissen vermitteln sollte und wollte, an Hindernisse und Hürden stieß – den Mangel an Resonanz im Denken und Selbstdenken.

In einer Schulstunde schließlich brachte es ein Schüler in Worte indem er etwa sagte, Herr Hebenstreit, ich weiß nicht wie ich denken kann. Die Schüler*innen wussten, ja ahnten nicht, dass es möglich ist,  dem Denken eine Orientierung und Ordnung zu geben, dass man denken lernen kann. Wir kamen darauf über die Problematik des Lärms bzw. der Ruhe und Stille im Unterricht zu sprechen, ich zog Bilder der Meditation, Kontemplation, des Gebets und der Muße, dem Stammwort des Wortes Schule (gr. schola für dt. Muße), zur Hilfe, führte Momente der Besinnung am Beginn jeder Unterrichtsstunde ein. Sie berichteten mir, sie würden nicht zur Ruhe und Stille kommen, nein es würde immerzu ein Strom von sprechenden Wörtern in ihnen fließen und sprudeln, ein Strom wirbelnder und chaotischer Gedanken und Gefühle, mitunter nur schwierig und anstrengend zu bewältigender Bewegungen, die sie stören und ablenken würden von dem, was ich von ihnen und mit ihnen wollen würde.

Ich nahm Ernst, was sie sagten, ich glaubte ihnen. Das stimmte mich fühlbar betroffen, ließ mich stumm und nachdenklich werden, ich fing an zu verstehen und änderte kurzentschlossen das Unterrichtsthema. Ich erzählte ihnen, was ich über das Denken und das Nicht-Denken zu sagen wusste, so viel wie in der verbleibenden Stunde und in der darauffolgenden an Zeit erübrigt werden durfte. Aus verschiedenen Gründen tiefer Irritation beendete ich meine Tätigkeit an dieser Schule auf eigenen Wunsch bereits nach wenigen Monaten. Aber aus diesem Ausflug nahm ich das Bewusstsein über die Bedeutsamkeit dieses Thema mit: Was ist Denken? Was ist philosophisches Denken? Und wie lerne und lehre ich das Handwerk des Denkens.

Wenn schon die Schule, gleichgültig ob Gymnasium wie bei mir selbst oder später die berufliche Schule, nicht Raum und Zeit finden, nicht die Lehrenden finden, dies zu vermitteln und selbst der Schule, die sich Hochschule und Universität nennt und zwar an der Fakultät für Philosophie, den Nachfolgenden das Philosophieren als Philosophieren, dies als Handwerk oder nach einem anderen Bild zu lehren und einzuüben keine explizite Aufgabe zu sein scheint, wie steht es dann um all die anderen, die damit nicht befasst und beauftragt sind? Und hilft dieser Befund vielleicht, einiges, was an wissenschaftlichen, öffentlichen, beruflichen und privaten Kommunikationen und Diskussionen geführt wird, zu erklären?
Ich habe mir also vorgenommen, darüber zu schreiben, selbst zu schreiben. Mich einzulesen in das, was ich vorfinde, darüber nachzudenken, vielleicht Neues zu denken, um es dann niederzuschreiben. Vielleicht so, dass verständlich wird, wie Denken als Philosophische Praxis gelernt und gelehrt sowie im Denken beraten werden könnte.

Die einzelnen Stücke werden in der Rubrik „Blog Philosophie“ zum pdf-Download angeboten werden und eines Tages, so hoffe ich, zusammengefasst als Buch erscheinen. Falls Sie daran interessiert sind, abonnieren Sie meinen Newsletter oder schauen Sie irgendwann erneut auf meiner Website nach. Allerdings wird es einige Zeit dauern bis ich veröffentliche, denn das Denken und Philosophieren braucht etwas, was auch in meinem Leben rar und knapp geworden ist – die Freiheit zur Muße.